Ein Arzt als Krebspatient Intensive Tage
Bis auf einige wenige Erkältungen im Herbst oder mal einen verknacksten Knöchel nach einem Tennisspiel war ich mein Leben lang nie ernsthaft krank. Ich achtete auf mich. Gesunde Ernährung, regelmäßige Bewegung und ausreichend Freizeit prägten meinen Lebensstil.
Alles war perfekt
Nach meinem Medizinstudium ging ich in die USA und arbeitete in verschiedenen Krankenhäusern im Großraum New York. Ich heiratet meine damalige Freundin. Die Ehe wurde nach fünf Jahren einvernehmlich geschieden. Anschließend kehrte ich nach Hannover zurück und führte mit meiner zweiten Frau eine glückliche Beziehung. Als unser erstes Kind geboren wurde, war ich 48 Jahre alt. Das zweite folgte drei Jahre später. Alles war perfekt: Meine Praxis lief gut, meine Work-Life-Balance war ausgewogen und ich kümmerte mich viel um unsere geliebten Kinder.
Ich sah den Tumor sofort
Mit 57 ging ich das erste Mal zur Darmkrebsvorsorge. Sicherlich etwas spät. Aufgrund meines Lebenswandels allerdings nicht zu spät, dachte ich damals. Während der Darmspiegelung ließ ich mich nicht betäuben. Man kann so die Reise durch den Darm live verfolgen. Nach fünf Minuten war die erste Hälfte des Darms erkundet. Dann der Schock: Ich sah den Tumor sofort, noch bevor der behandelnde Kollege mich darauf hinweisen konnte. Mir wurde schummrig und ich bombardierte ihn umgehend mit Fragen, die Menschen mit einer Krebsdiagnose üblicherweise stellen. Die Wichtigste, zu meiner Prognose, konnte er nicht beantworten. Erst müssten weitere Untersuchungen folgen. Der Tumor hatte nämlich eine Größe, bei der man eine Metastasierung nicht ausschließen konnte. Mit dieser Information verließ ich die Praxis – völlig aufgelöst.
Die Wahrheit musste warten
Ich rief meine Frau an und konfrontierte sie mit der Diagnose, achtete aber auf einen gelassenen Tonfall, denn ich sagte ihr, es handele sich um ein frühes Stadium. Für meine Gesundheit bestünde keine Gefahr. Die Wahrheit hätte meine Frau aufgrund ihres Naturells schwer verkraftet. Zugleich befürchtete ich, dass unsere Kinder etwas merken könnten. Das wollte ich unbedingt vermeiden. Sie sollten nichts von meiner Erkrankung erfahren. Als wir uns zwei Stunden später in unserem Haus trafen, löcherte meine Frau mich mit Fragen. Es fiel mir schwer, alles entsprechend herunterzuspielen. Sie hatte gewisse Kenntnisse rund um onkologische Erkrankungen, denn ihre Mutter war einige Jahre zuvor an Krebs erkrankt und leider auch daran gestorben. Sie wirkte skeptisch und war recht aufgeregt.
Schwierigste Tage meines Lebens
Die zwei Tage bis zu den weiterführenden Untersuchungen waren die schwierigsten meines Lebens. Ständig musste ich mich zusammenreißen. Niemand sollte merken, dass es mir schlecht ging. Die Ungewissheit zerrte dermaßen an meinen Nerven, dass ich körperliche Auswirkungen spürte. Ich konnte nicht schlafen, nichts essen und mein Kreislauf war irgendwie ständig instabil. Glücklicherweise lag das Wochenende vor mir und ich musste nicht arbeiten. Das hätte sicherlich nicht funktioniert.
Schlechtes Gewissen
Am Montagmorgen begannen die Untersuchungen. Mit speziellen Röntgenverfahren suchte man nach Metastasen. Zudem schauten sich Experten den Tumor selbst ganz genau an. Es ging darum, wie weit er bereits in die Darmwand eingedrungen war. Je tiefer, desto schlechter. Irgendwann saß ich dann wieder im Warteraum. Allein. Ich sehnte mich nach meiner Frau, deren Begleitung ich zuvor abgelehnt hatte – damit wollte ich erneut Gelassenheit demonstrieren. Ein Fehler, dachte ich in dem Moment. Zugleich bekam ich ein schlechtes Gewissen: War es richtig, ihr nicht die volle Wahrheit gesagt zu haben? Dann der Aufruf ins Besprechungszimmer Nummer 3. Meine Anspannung war unerträglich. Die abschließende Diagnose lautete Darmkrebs im Stadium II. Keine Metastasen! Alles fiel von mir ab. Ich war wieder da.
Der Respekt bleibt
Sofort rief ich meine Frau an und entschuldigte mich bei ihr. Sie gestand mir, dass sie meine Unruhe der vergangenen Tage gespürt hatte. Eine halbe Stunde später lagen wir uns in den Armen. Die Operation folgte zwei Tage später. Danach kam die Chemotherapie. Ich verkraftete alles sehr gut. Konnte sogar früh wieder Sport treiben – auch wenn das häufig viel Überwindung kostete. Alles in allem war ich nach sechs Monaten wieder voll auf dem Damm. Heute – fünf Jahre später – gelte ich als geheilt. Und so fühle ich mich auch. Nur der Respekt vor der Krankheit bleibt. Nicht schlimm.