Darmkrebs Ein Arzt als Krebspatient: „Ich war wohl ziemlich naiv!“
Ich stieg damals in die Praxis meines Vaters ein. Das war praktisch. Ich wusste genau, worauf ich mich einließ. Das Arbeitsaufkommen war überschaubar und ich profitierte von seinen Erfahrungen. Ende 2009 ging mein Vater dann in Rente. Für mich brach eine arbeitsreiche Zeit an, musste ich ihn doch vollständig ersetzen. Besonders herausfordernd war die Übernahme seines Patientenstamms. Ich versank in Arbeit. Und ich übersah die Symptome.
Im Fokus stand die Arbeit
Viele Jahre arbeitete ich so vor mich hin. Ein Zwölf-Stunden-Tag war normal, wurde zur Gewohnheit. Die Praxis lief, ich konnte mich vor Patienten kaum retten. Dieser Zuspruch schmeichelte mir und kompensierte den Mangel an Freizeit. Meine damalige Lebensgefährtin, Anna, störte das alles nicht, da sie selbst viel arbeitete. So beschränkte sich unser Zusammensein auf die Wochenenden.
Ich lebte nicht sonderlich gesund: Für Sport blieb keine Zeit und die Ernährung spielte eine untergeordnete Rolle in meinem Tagesablauf. Das alles sollen keinen Ausreden dafür sein, dass ich in diesen Jahren nicht auf meinen Körper hörte und dummerweise auch nie zur Darmkrebsvorsorge ging, obwohl ich längst zur entsprechenden Altersgruppe gehörte. Ich war in diesen Jahren einfach zu fokussiert auf meine Praxis.
Symptome anfangs ignoriert
Alles begann mit einem unregelmäßigen Stuhlgang. Ich ging häufiger zur Toilette, ohne dass es zur Entleerung kam. Auch wechselten sich oft Durchfall und Verstopfungen ab, obwohl ich nichts Außergewöhnliches aß, was diesen Stuhl hätte rechtfertigen können. Da ich mich jedoch körperlich gut fühlte, ignorierte ich diese Symptome. Schob alles auf meinen Arbeitsstress und mein zunehmendes Alter.
Zudem gab es auch immer wieder Phasen, in denen alles recht normal war, in denen keine Krankheitszeichen auftraten. Ich sah das als Bestätigung meiner Diagnose. Im Laufe der Zeit wurden diese Phasen allerdings immer weniger. Und dann kam der Tag, an dem ich Blut in meinem Stuhl sah. Ich ging sofort zu einem Gastroenterologen. Nach meinen Schilderungen empfahl er mir eine sofortige Darmspiegelung.
Für einen Mediziner ziemlich naiv
Als ich aus der Narkose aufwachte, war ich mächtig nervös: Hatte mein Kollege etwas in meinem Darm entdeckt? Ganz flüchtig dachte ich das erste Mal an Krebs. Verwarf diesen Gedanken aber gleich wieder. Schließlich gab es eine solche Erkrankung in meiner Familie bisher nicht. Warum sollte ich sie also haben?! Ich glaubte tatsächlich fest an etwas Harmloses.
Das war, vor dem Hintergrund der vorliegenden Symptome, ziemlich naiv – vor allem für einen Mediziner. Heute ist mir mein Verhalten wirklich peinlich. Als man mich dann ins Sprechzimmer holte, sah ich schon am Blick meines Kollegen, dass etwas nicht stimmte. Er redete nicht lange um den heißen Brei herum: Er hatte einen drei Zentimeter großen Tumor gefunden. Ich hatte Darmkrebs.
Unbekannte Gefühlswelt
Die Diagnose brachte mich in eine Gefühlswelt, die ich bis dato nicht kannte. Es handelte sich um eine Mischung aus Angst, Zorn und Hilflosigkeit. Ich konnte mich kaum vernünftig artikulieren. Meine erste Frage war, wie es nun weitergehe. Und wie lange ich arbeitsunfähig sei. Ich war völlig durch den Wind. Ich rief Anna an. Sie war ebenfalls geschockt. Brach ihre Arbeit ab und kam zu mir. Natürlich versuchte sie, mich zu beruhigen.
Es gelang mir allerdings kaum, ihr zuzuhören. Zu sehr kämpfte ich mit meinen Gefühlen: Ich hatte Angst um mein Leben, Angst um meine Existenz. Wie sollte es mit meiner Praxis weitergehen? Und ich war sauer auf mich selbst. Wie konnte ich es so weit kommen lassen? Letztlich brach ich in Tränen aus. Seit meiner Kindheit hatte ich nicht mehr geweint. Anna nahm mich in den Arm und ließ erst nach einer gefühlten Ewigkeit wieder los. Das tat gut.
Weinen half
Es klingt sicherlich ziemlich pathetisch, aber dieser Gefühlsausbruch, der in einem langen Weinkrampf gipfelte, half mir, meine Gefühle zu strukturieren: Ich hakte das Thema Praxis ab. Ich würde vorübergehend schließen und mir einen Vertreter suchen, der den Betrieb aufrechterhält. Die Anklage gegen mich selbst ließ ich fallen. So konnte ich mich voll auf die Diagnose konzentrieren. Ich beschloss, stark zu sein. Das Ganze möglichst sachlich anzugehen.
Ich rief einen entfernten Bekannten an, einen Onkologen. Das Gespräch war wenig aufbauend, obwohl er mir von neuen, sehr erfolgreichen Therapiemethoden berichtete. Um meine persönliche Prognose zu kommentieren, fehlten ihm die Ergebnisse weiterer Untersuchungen. Die standen an den nachfolgenden Tagen an.
Mehr Glücksmomente
Es handelte sich um einen Tumor des Stadiums zwei. Laut der behandelnden Ärzte war meine Prognose nicht schlecht. Das bestätigte auch mein Bekannter. Dennoch blieb ich unruhig, schlief sehr schlecht. Ich hatte Angst vor der OP, und das aus zwei Gründen: Erstens wurde ich noch nie operiert und zweitens befürchtete ich Komplikationen. Wie sich herausstellte, war alles völlig unbegründet. Ich überstand die OP gut. Kam schnell wieder zu Kräften. Und die Tatsache, dass sich der Tumor nicht länger in meinem Körper befand, war motivierend.
Nun galt es noch eventuell verbliebene Metastasen zu bekämpfen. Die entsprechende Chemotherapie war anstrengend. Auf Empfehlung eines befreundeten Sportmediziners trieb ich in dieser Zeit Sport, so gut es ging. Ich hatte zwar keinen Vergleich, aber ich glaube, das tat mir gut – geistig sowie körperlich. Ich stieg sogar schon wieder stundenweise in meine Praxis ein – versuchte mir den Alltag zurückzuholen. Nach der Chemo war meine Gefühlswelt vollständig wieder hergestellt. Vielleicht ist sie seitdem sogar mit mehr Glücksmomenten versehen. Ich genieße das Leben nämlich mittlerweile einfach intensiver.