Lungenkrebs Was die Immuntherapie bewirken kann
Das Immunsystem ist ständig auf der Suche nach Zellen und Fremdkörpern, die nichts in unserem Körper zu suchen haben. Krankheitserreger werden ebenso angegriffen wie körpereigene Zellen, wenn diese krank oder entartet sind. Dabei stellt sich die Frage: Woher weiß das Immunsystem, was angegriffen und was verschont werden soll?
„Dafür hat der gesunde Körper eine sehr fein ausbalancierte Freund-Feind-Erkennung“, sagt Prof. Dr. Stefan Kubicka, Chefarzt der Medizinischen Klinik I im Klinikum am Steinenberg in Reutlingen. „Damit hält das Immunsystem das Gleichgewicht im Kampf gegen Fremdes beziehungsweise Krankes und in der Schonung des Eigenen sowie Gesunden.“
Rezeptoren geben das Signal
Der Organismus wird krank, wenn dieses Gleichgewicht außer Kontrolle gerät. Ist das Immunsystem zu nachsichtig gegenüber Fremdkörpern, Krankheitserregern und entarteten Zellen können sich Entzündungen oder Krebszellen leicht oder sogar ungehindert ausbreiten. Ist das Immunsystem zu empfindlich, richtet es sich auch gegen gesunde Zellen. „Auch diese übertriebene Reaktion ist eine große Gefahr für den Körper“, sagt Prof. Kubicka. „Die Patienten leiden dann oft unter den sogenannten Autoimmunkrankheiten.“ Dazu gehören unter vielen anderen bestimmte rheumatische Erkrankungen, der Typ-1-Diabetes und chronisch-entzündliche Darmerkrankungen.
Die Aktivität von Immunabwehrzellen wird über Botenstoffe geregelt, die sich an der Zelloberfläche auf sogenannten Andockstellen beziehungsweise Rezeptoren anlagern. Je nachdem, ob bestimmte Rezeptoren besetzt oder nicht besetzt sind, wird die Abwehrzelle aktiviert oder deaktiviert. Fachleute sprechen bei diesen Andockstellen von den sogenannten Immunkontrollpunkten oder Immun-Checkpoints.
Der Krebs täuscht und tarnt
„Das fatale bei bestimmten Krebsarten ist, dass das Immunsystem die entarteten Zellen des Krebs erkennt und sich deshalb viele Abwehrzellen in und um den Tumor ansammeln“, sagt Prof. Kubicka. „Sie könnten den Krebs also bekämpfen – tun es aber nicht, weil der Krebs Botenstoffe aussendet, die an den Immun-Checkpoints andocken und die Immunabwehr im Kampf gegen den Krebs ausbremsen.“ Das war ein wichtiger Ausgangspunkt für die Forscher. Sie suchten nach Medikamenten, die die bremsenden Botenstoffe der Tumoren neutralisieren oder die Andockstellen der Abwehrzellen so besetzen, dass die Abwehrzellen nicht mehr von den Botenstoffen des Tumors ausgebremst werden können. Fachleute sprechen bei diesen Medikamenten von den sogenannten Immun-Checkpoint-Inhibitoren oder allgemein von einer Immuntherapie. Lösen diese Medikamente die Bremsen der Immunabwehr, bekämpfen die Abwehrzellen den Krebs selbstständig und zuverlässig im ganzen Körper.
Das bedeutet, dass auch kleine Krebsnester erkannt und vernichtet werden können. Seit etwa acht Jahren werden Immun-Checkpoint-Inhibitoren gegen Krebs eingesetzt. „Der Durchbruch für diese Therapie gelang im Kampf gegen den schwarzen Hautkrebs“, erläutert Prof. Kubicka. „Heute können mit diesen Medikamenten viele Patienten vor dem – einst sehr raschen – Tod bewahrt werden.“
Seit diesem Frühjahr stehen derartige Medikamente auch gegen das Nierenzellkarzinom und gegen den Lungen- und Blasentumor zur Verfügung. „Die Entwicklung dieser Medikamente schreitet so rasch voran, dass fast in jedem Quartal neue Medikamente zugelassen oder in Studien neu erprobt werden“, sagt Prof. Kubicka. „Die Immun-Checkpoint-Inhibitoren entwickeln sich quasi zur vierten Säule in der Krebstherapie.“
Nach wie vor wird der Lungenkrebs zunächst, soweit möglich, operativ entfernt oder direkt mit einer Strahlen- und Chemotherapie bekämpft. Ist der Lungenkrebs schon weiter fortgeschritten oder kann er nicht mehr operiert werden, setzen die Ärzte Chemotherapien, zielgerichtete molekulare Therapien oder Immuntherapien ein.
Patienten mit einem hoch immunogenen Tumor, der also eine starke Reaktion des Immunsystems auslöst, erhalten dabei heute schon die Immuntherapie als erste Therapieoption. „Erkennen wir, dass der Patient von den Medikamenten profitiert, müssen sie derzeit fortwährend eingenommen werden. Wirken sie nicht, werden sie wieder abgesetzt“, sagt Prof. Kubicka.
Eine zweite Meinung hilft
Werden die Bremsen der Immunabwehr gelöst, kann es passieren, dass die Freund-Feind-Erkennung nicht mehr zuverlässig funktioniert. Dann werden auch gesunde Zellen im Körper angegriffen. „Diese Nebenwirkungen treten in höherem Ausmaß nur bei etwa jedem fünften bis zehnten Patienten auf“, betont Prof. Kubicka. „Mit einer engmaschigen Kontrolle der Blutwerte kann diese Nebenwirkung meist rasch und zuverlässig erkannt werden.“
Typische Nebenwirkungen sind unter anderem Müdigkeit, Hautausschlag, Durchfall, Schilddrüsenunterfunktion und nicht-infektiöse Lungenentzündungen. „Heldentum ist hier nicht gefragt“, so die Ansicht von Prof. Kubicka. „Daher sollen Patienten unbedingt sehr frühzeitig einen Arzt aufsuchen, wenn sie Veränderungen bemerken.“
In Deutschland werden Patienten zwar entsprechend der neuesten Erkenntnisse und Standards behandelt. „Trotzdem kann es sich lohnen, eine zweite Meinung einzuholen“, rät Prof. Kubicka. „Oft hilft schon die Bestätigung, dass alles richtig gemacht wird, die Krankheit besser zu bewältigen und die Therapietreue zu erhöhen.“