Infektionsschutz Krebs und Coronagefahr: Diagnose Risikogruppe
Dorothea Schmidt* kommt nach Hause. Am liebsten würde sie ihrem Mann die Einkäufe direkt übergeben – doch stattdessen beginnt sie, sich ausgiebig die Hände zu waschen. Noch wohnt sie mit Holger Schmidt* zusammen, der seit einer überstandenen Knochenmarkserkrankung immungeschwächt ist, doch die beiden bereiten sich darauf vor, bald in getrennten Wohnungen zu leben. „Meine Frau ist Lehrerin. Da ich zu einer Risikogruppe gehöre, ist sie zwar vom Präsenzdienst in der Schule freigestellt, doch so wird sie in meine Isolation mit hineingezogen“, sagt Holger Schmidt. „Wenn sie freiwillig wieder in die Schule geht, ist sie für mich jedoch ein Hochrisiko. Und sobald meine Tochter aus dem Ausland nach Hause kommt, muss ich auf jeden Fall die Wohnung wechseln. Dann wird die Gefahr zu groß, dass ich mich bei ihr infiziere.“
Krebs ist ein Risikofaktor
Er ist kein Einzelfall: Dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg zufolge leben in Deutschland schätzungsweise 1,67 Millionen Menschen mit einer Krebserkrankung. Die Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 stellt sie nun vor Probleme, die weit über die hinausgehen können, welche durch Krankheit und Therapie ohnehin auf sie zukommen. Holger Schmidts Behandlung ist schon zehn Jahre her. Er erinnert sich: „Ich hatte eine primäre Myelofibrose, eine tödliche Krankheit. Die einzige Möglichkeit wieder gesund zu werden, war eine allogene Stammzelltransplantation.“ Zunächst sah es so aus, als ginge die hochriskante Behandlung bei dem damals 40-Jährigen schief – das Spenderknochenmark wuchs nicht an. Doch er hatte großes Glück, sein eigenes Knochenmark regenerierte sich. Eine gewisse Immunschwäche blieb jedoch bestehen. Aus dem Jahr nach der Transplantation kennt Schmidt ein Leben, das sich nach strengen Hygieneregeln richtet. „Im Gegensatz zu heute war ich damals aber, sobald ich aus der Klinik nach Hause kam, im Kreis meiner Familie“, sagt er. Über die seelischen Herausforderungen der Distanzierung, die ihm bevorsteht, macht er sich nun genauso viele Sorgen, wie über die Gefahr einer Ansteckung.
Sorgen machen sich die mehreren Hunderttausend Menschen, bei denen jetzt, mitten in der Corona-Krise, Krebs diagnostiziert wurde oder die sich gerade in der Therapie befinden, vor allem um ein weiteres Thema: Ob auch in der Ausnahmesituation ihre medizinische Versorgung sichergestellt ist. Laut eigenen Angaben erhalten die Informationszentren der Deutschen Krebshilfe und des DKFZ diesbezüglich immer mehr Anfragen von beunruhigten Patientinnen und Patienten.
Frühwarnsystem wurde aufgebaut
Die beiden Organisationen versuchen, die besorgten Menschen so gut wie möglich zu unterstützen: Seit Beginn der COVID- 19-Pandemie stellen sie Informationen zur Verfügung. Sie haben ihre Beratungskapazitäten erweitert und gemeinsam mit der Deutschen Krebsgesellschaft ein Frühwarnsystem aufgebaut. Ziel ist es, die Versorgungslage in der Krebsmedizin regelmäßig zu bewerten, um falls nötig schnell Kontakt mit der Politik aufzunehmen und gegenzusteuern. Erste Ergebnisse zeigen: In der Praxis beeinträchtigt die Pandemie die Krebsmedizin weniger als befürchtet. „Einschränkungen gibt es zum Teil bei der Nachsorge, da können sich Termine verzögern. Ansonsten läuft die Patientenversorgung aber weitgehend normal ab“, berichtet Dr. Susanne Weg-Remers, Leiterin des DKFZ-Krebsinformationsdienstes, auf Nachfrage.
Bitte keine Panik!
Das beobachtet auch Professor Dr. Andreas Schneeweiss, Sektionsleiter der gynäkologischen Onkologie an der Uniklinik Heidelberg. An den Behandlungsentscheidungen in seiner Klinik habe sich kaum etwas geändert, sagt er in einem Interview. Da die Behandlungen riskant sind, beinhaltet jede Therapiewahl dem Experten zufolge ohnehin eine Risikoabwägung. „Da kommt jetzt nur eine weitere Variable hinzu.“ In dringenden Fällen beginnen die Ärzte immer sofort mit der nötigen Behandlung, versichert Prof. Schneeweiss. Er rät seinen Kollegen, trotz der Pandemie nicht in Panik zu verfallen und soweit es geht, Normalität zu üben.
Das versucht auch Holger Schmidt angesichts der kommenden Monate bis Jahre. Die Aussicht, so lange ohne körperlichen Kontakt zu leben, bis ein Impfstoff verfügbar ist, kann einen leicht depressiv stimmen. Was Schmidt dabei hilft eine positive Lebenseinstellung zu bewahren, ist seine Arbeit. Der Pfarrer kann seine Arbeit beinahe komplett aus dem Homeoffice erledigen. „Meine Frau und ich haben beide unsere Aufgaben. Wir können uns ja auch noch sehen und gemeinsam mit genügend Abstand spazieren gehen.“ In Sachen Optimismus lässt sich Holger Schmidt auch gerne von anderen inspirieren: „Kennen Sie diesen Moderator der Börse vor Acht aus dem Ersten?“, fragt er mich. „Der steht immer so da, in einer großen Ruhe, und sagt fast jedes Mal: ‚Was wir jetzt brauchen, ist Disziplin und Heiterkeit.‘“
Die Versorgung bleibt stabil
Angesichts der überbordenden Meldungen über Corona bleibt manchmal auf der Strecke, dass es auch noch andere Krankheiten gibt, die versorgt werden müssen. So wurden in den letzten Monaten weniger Herzinfarkte und Schlaganfälle aus den Kliniken gemeldet – was nicht heißt, dass es in der Bevölkerung weniger gibt.
Positiv für Krebspatienten: Ihre Behandlung bleibt in Deutschland gesichert.
Aus der Krise Positives mitnehmen
Trotz aller Probleme sieht Holger Schmidt in der Corona- Pandemie sogar Chancen. „Krisen sind eine Provokation zur Sensibilisierung und Bewusstwerdung“, weiß er. Für ihn war seine Krankheit eine solche Krise, die sein Leben verändert hat. Seitdem konzentriert er seine Energie auf das, was ihm wirklich wichtig ist.
Äußerlichkeiten und soziale Inszenierung sind in den Hintergrund gerückt, an ihre Stelle trat eine „Ökonomie des Genug“. Schmidt erlebt vieles nun bewusster und intensiver. „Wer weiß, vielleicht löst die Virusepidemie ja eine gesellschaftliche Dynamik und eine tiefere Debatte darüber aus, wie wir eigentlich leben möchten“, sagt er. „Das erhoffe ich mir. Und ich bin neugierig, was da auf uns zukommen wird.“
*Namen von der Redaktion geändert.