Forschung Auf der Suche nach neuen Wirkstoffgruppen gegen Krebs
Der menschliche Körper besteht aus fast unzähligen einzelnen Zellen. Damit der Körper bis zu seinem Tod in einem ständigen und gesunden Gleichgewicht bleibt, muss er die allermeisten Zellen immer wieder erneuern. Das heißt, dass in jedem Augenblick Zellen wachsen und sich teilen und in jedem Augenblick Zellen absterben. Dafür stellt der Körper den Zellen immer genügend Nährstoffe bereit.
Gleichzeitig sorgt er dafür, dass die Abfallprodukte der abgestorbenen Zellen abtransportiert werden und so dem Körper nicht schaden können. „Dies ist eines der vielen Wunder, die charakteristisch sind für Organismen mit vielen Zellen, zu denen auch der Mensch gehört,“ sagt Dr. Thomas Radimerski, Gruppenleiter in den Novartis Institutes for BioMedical Research, Oncology Research in Basel. „Den Zellen stehen immer Nährstoffe zum Wachstum und zur Zellteilung zur Verfügung.“ Hochkomplexe Regelmechanismen steuern beide Prozesse wirksam und initiieren die Zellteilung präzise, wann immer es für die Aufrechterhaltung von Organ- und Körperfunktionen angebracht ist. Somit werden unkontrolliertes Zellwachstum und Zellteilung verhindert. Diese natürlichen Regelmechanismen sorgen auch dafür, dass Wachstum und Teilung nicht in Zellen geschieht, die spezialisierte Aufgaben wahrgenommen haben und sich nicht mehr teilen sollen.
Veränderungen als Fehlerquelle
Die vielen Milliarden Zellteilungen im Laufe unseres Lebens sind aber nicht nur die Garantie für ein gesundes Gleichgewicht zwischen sich teilenden und sterbenden Zellen. Sie sind auch eine Fehlerquelle. Passieren bei der Zellteilung Fehler – Fachleute sprechen dann von Mutationen – können die Zellen die ihnen zugewiesenen Aufgaben – je nach Mutation – nicht mehr korrekt erfüllen. „Meistens ist dies kein Problem,“ betont Dr. Radimerski. „Unsere Zellen haben eingebaute Mechanismen, um Fehler, die in unserem Erbgut entstehen können, wieder zu beheben. Darüber hinaus hat unser Immunsystem die Fähigkeit, entartete Zellen zu erkennen und sie unschädlich zu machen.“ Allerdings arbeiten die Korrekturmechanismen nicht immer hundertprozentig fehlerfrei und es kommen auch gefährliche Mutationen mit gravierenden Konsequenzen vor. Zum einen durchbrechen sie den Regelkreislauf aus Zellwachstum, -teilung und -tod: Die Zellen teilen sich dann ungehemmt. Zum anderen kann sich die entartete Zelle so verändern, dass sie das Immunsystem nicht erkennen und bekämpfen kann. Die Folge davon ist Krebs.
Eine aufwendige Analyse
Wissenschaftler und Forscher arbeiten intensiv daran, Medikamente gegen Krebs zu finden oder zu entwickeln. Sie sollen nach Möglichkeit nur die Krebszellen oder ihre Helfer in den sogenannten Zelltod schicken und möglichst geringe Nebenwirkungen haben. „Dazu ist es notwendig, die Achillesferse einer Mutation zu finden“, sagt Dr. Radimerski. „Was sich so leicht anhört, ist im Einzelfall extrem komplex.“
Derzeit sind über 1.000 unterschiedliche Krebszellen wissenschaftlich erfasst und für Untersuchungen verfügbar. Wissenschaftler nennen sie Krebszelllinien. Das sind Krebszellen, die von Patienten stammen und in Laboren zu Forschungszwecken untersucht werden. „Das ist die Ausgangsbasis unserer Arbeit“, sagt Dr. Radimerski. „Wir durchforsten die Krebszelllinien ständig nach Besonderheiten, d.h. nach neuen therapeutischen Angriffspunkten.“ Diese Arbeit ist sehr aufwendig und zeitraubend, weil Zellen natürlich viele unterschiedliche, aber ebenso auch sehr viele ähnliche Eigenschaften haben.
Das Ziel für Angriffe definieren
„Wird eine krebsspezifische Achillesferse identifiziert, ist ein Anfang gemacht: Wir haben ein Ziel für unsere Angriffe gefunden“, so Dr. Radimerski. „Nun gilt es, die Waffen dafür zu entwickeln.“ Weil diese Ansätze der Krebstherapie ganz gezielt auf besondere Mutationen der Krebszellen ausgerichtet sind, sprechen Mediziner von den sogenannten molekular zielgerichteten Krebstherapien.
An einem Beispiel wird deutlich, wie komplex und aufwendig die Forschung und die Entwicklung von Medikamenten gegen den Krebs sind. Um das Zellwachstum einer gesunden Zelle anzuregen, ist normalerweise das Andocken von Botenstoffen (sogenannte Wachstumssignale) an Antennen auf der Zelloberfläche notwendig. Bei bestimmten Krebszellen, bei denen die Antennen auf der Zelloberfläche mutiert sind, werden Wachstumssignale an das Zellinnere weitergegeben, ohne dass Botenstoffe angedockt sind. Als die Wissenschaftler diese Zusammenhänge erforscht hatten, wurde die Idee entwickelt, einen Stoff zu entwickeln, der von den Antennen aufgefangen wird, aber kein Wachstumssignal im Zellinneren auslöst. Nun beginnt die akribische Suche eines Wirkstoffs, der die Antenne wirksam blockiert.
Die menschliche Zelle
Die Zelle ist die kleinste lebende Einheit von Organismen. Die Biologie unterscheidet bei Organismen Einzeller und Mehrzeller. Bei komplexen Lebewesen, die aus vielen zellen bestehen, verbinden sich die einzelnen zellen zu bestimmten Funktionen.
Unser Körper besteht durch die Ausdifferenzierung der unterschiedlichen Funktionen aus verschiedenen Zelltypen. Das führt dazu, dass die zellen in komplexen Systemen die Fähigkeit verlieren, autark für sich existieren zu können.
Der Vorteil allerdings: Bei Vielzellern gibt es eine größere Fähigkeit zur Arbeitsteilung.
Der Weg ist lang, aber erfolgreich
„Nachdem das Ziel erkannt und eine Idee zur Methode entwickelt ist, beginnt der lange, meist viele Jahre dauernde Weg, bis ein infrage kommender Wirkstoff gefunden ist “, betont Dr. Radimerski. „Damit Wirkstoffe überhaupt eingesetzt werden können, müssen sie nämlich geeignete pharmakologische Eigenschaften aufweisen. Das macht die Suche sehr aufwendig.“
Der Wirkstoff muss nicht nur die Antenne wirksam blockieren, sondern muss neben vielen anderen Voraussetzungen sein Ziel, die Krebszelle, rechtzeitig und unbeschadet erreichen. Das heißt, er darf nicht vorher abgebaut oder ausgeschieden werden. Er sollte möglichst wenige Nebenwirkungen auslösen und, wenn er sein Ziel erreicht und blockiert hat, auch wieder ausgeschieden werden. Der Computer ist längst ein unentbehrlicher Helfer in den Laboren und Forschungseinrichtungen. Er wird die klassische Laborarbeit und klinische Studien aber nie ersetzen können. „Auf diesem Weg werden oft viele tausend Substanzen generiert, getestet und wieder verworfen, bis sich endlich ein Hoffnungsträger zeigt“, betont Dr. Radimerski. „Auch wenn es viel Arbeit ist: Wir dürfen uns nicht entmutigen lassen. Aufgeben gibt‘s nicht!“